Evelyn Richter, Kulturpreisträgerin 1992 © Barbara Klemm
Evelyn Richter, Kulturpreisträgerin 1992 © Barbara Klemm

Evelyn Richter (31. Januar 1930 in Bautzen – 10. Oktober 2021 in Dresden)

Zum Abschied von Evelyn Richter

Eine letzte Veröffentlichung fasste sie nochmals zusammen, die Themen der Evelyn Richter: Ihre Fotografien zeigen Menschen unterwegs, allein, nachsinnend verloren, melancholisch. Die Bilder in Zügen, in Straßenbahnen, U-Bahnen, technischen Gehäusen, die von einem Ort zu anderen bewegt werden. Ein anderes, das vielleicht wichtigste Thema, kam auch zum Vorschein: Museumsbesucher, Menschen beim Betrachten von Kunst, konzentriert, nachdenklich, in einem besonderen Zustand des Bewusstseins. Evelyn Richter bevorzugte das unauffällige Fotografieren aus dem Moment heraus, im Geschehen selbst, im lange erarbeiteten Zufall. Es sind Schwarzweiß-Bilder mit zumeist harten Kontrasten, von einem schwarzen Rahmen eingefasst, kleine grafische Etüden mit ausponderierten Elementen. Die Orte wechseln, London ist dabei, New York, Venedig, aber auch sehr ausführlich Moskau sowie Rumänien. Evelyn Richters Schüler und Freund Werner Lieberknecht hatte annähernd 70 Kleinbildfilme, die 2013 im Archiv der Künstlerin aufgefunden worden waren, entwickelt, und mit ihr zusammen eine Auswahl von Bildern getroffen, die 2018 in dem Band „Von der Latenz der Bilder“ abgedruckt wurden. Da lebte Evelyn Richter bereits seit Jahren in einem Pflegeheim, nahezu völlig ans Bett gebunden, nachdem ein Schlaganfall sie gesundheitlich hart getroffen hatte. Dort ist sie am  Sonntag, dem 10. Oktober 2021, im Alter von 91 Jahren verstorben.

Sie gilt als große Vertreterin der künstlerisch intendierten Fotografie im Osten Deutschlands, die zumeist mit dem Label „sozial-dokumentarisch“ versehen wird. Tatsächlich kann ihr Impetus so verstanden werden, doch greift diese Zuordnung zu kurz. Evelyn Richter lebte ganz und gar mit und für die Kunst, sie interessierte sich leidenschaftlich für menschliche Schicksale, besonders zudem für die Situation der Frauen. Letzteres basierend auf den Erfahrungen einer Fotografin, die jahrzehntelang freiberuflich gearbeitet hatte, bis spät, im Jahr 1980, die Berufung zur Dozentin für Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig ihr das soziale Überleben erleichterte. Dort konnte sie ihre langjährigen Erfahrungen vermitteln, ihre künstlerische Positionierung weitertragen. Dies tat sie auch in der Rede - prägnant, intellektuell, kritisch und mit von ihrem Temperament angefeuerten Wiederholungen, aber auch verständnisvoll, duldsam, mit besonderem Blick für die Situation insbesondere der Studentinnen.

Dies mochte mit ihren eigenen Anfängen zusammenhängen: Die 1930 geborene Tochter einer großbürgerlichen Familie aus Neukirch/ Sachsen hatte sich sehr früh für die Künste entschieden und schließlich spontan die Fotografie als Fach gewählt. 1948 trat sie eine Lehre in der privaten Schule von Pan Walther in Dresden an und wurde dort noch in die traditionelle Ästhetik der Kunstfotografie um 1900 eingewiesen. Nachdem Walther quasi über Nacht in den Westen Deutschlands gegangen, arbeitete sie als Laborantin und Fotografin an der TU Dresden, bis sie, aufgrund kurzzeitig gelockerter politischer Vorgaben, 1953 ein Studium der künstlerischen Fotografie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig beginnen konnte. Als junge Frau strebte sie, wie sie in einem Interview 1992 immer noch voller Verve berichtete, "Horizonterweiterung und geistige Entwicklung" an, doch kollidierten ihre idealistischen Ansprüche hart mit den restriktiven, politisch motivierten Vorgaben an der Kunsthochschule. Die Exmatrikulation war die Folge. Danach stand das berufliche und künstlerische Überleben an. In den Jahren 1956/1957 wirkte Evelyn Richter zusammen mit einigen Gleichgesinnten in der Künstlergruppe „action fotografie", die nach ersten Ausstellungen durch behördliche Maßnahmen zunächst behindert und anschließend indirekt aufgelöst wurde.

Evelyn Richter stand vor der Wahl: In den Westen zu gehen, wie es viele Gefährten taten oder sich für die Existenz einer freiberuflichen Künstlerin unter den Lebensbedingungen in der DDR zu entscheiden. Sie blieb schließlich bewusst im Osten Deutschlands, gebunden an ihre familiäre und kulturelle Herkunft. Und auch eingedenk des Umstandes, dass sie, wie sie in dem zitierten Interview einräumte „unbegabt zum Existieren“ war, ihr das Gewinndenken und der äußere Glanz des Westens zutiefst fremd blieben. Evelyn Richter arbeitete jahrzehntelang und auch physisch hart zwecks Broterwerb als Werbefotografin und Bildredakteurin für Messen sowie als Ausstellungsgestalterin zumeist in Leipzig. Gleichzeitig begann sie mit der Arbeit an psychologischen Porträts zur Lebens- und Arbeitsweise von Frauen und Milieustudien in Produktionsbetrieben in der DDR. Und sie verfolgte, ebenso über viele Jahre hinweg, ein anderes Thema: Musiker-, Dirigenten- und Komponistenporträts. Und immer wieder fotografierte sie Menschen beim Betrachten von Kunst, zumeist in Ausstellungen.

Bereits 1957 hatte es eine Art Initiationserlebnis gegeben: Während einer durch einen Fotowettbewerb ermöglichten Reise nach Moskau hatte sie, auch technische Zufälle bedingt, zu der ihr eigenen Fotografierweise gefunden. Evelyn Richter arbeitete mit einer unauffälligen Kleinbildkamera, die sie ständig mit sich führte und die ihr ein intuitives, erlebnisbetontes Agieren ermöglichte. Anregung und Bestätigung bot das Werk von Henri Cartier-Bresson, dessen ästhetisches Credo vom „entscheidenden Moment“ des Fotografischen, dem „moment décisif“ auch das ihre wurde. Der Besuch der Westberliner Station der Ausstellung "The Family of Man" 1955 hatte bereits eindrücklich gewirkt: Das genau beobachtende, vom Ideal der Mitmenschlichkeit getriebene Fotografieren wurde zur künstlerischen Methode. Sie blieb persönliche Richtlinie, auch wenn Jüngere, etwa auch Schülerinnen, inzwischen andere Vorstellungen von einer künstlerischen Positionierung mit Fotografie verfolgten.

Evelyn Richter gab im Laufe der Jahre 3 fotografische Bücher heraus, die als wichtigste Dokumente ihres Lebenswerkes gelten können. Musik und musikalisches Erleben standen der Fotografin besonders nahe. Der Bildband „David Oistrach. Ein Arbeitsporträt“ erschien 1973 auf Grundlage von Fotografien aus etwa einem Jahrzehnt. Viele ihrer Aufnahmen zeigen den berühmten Geigenvirtuosen und Dirigenten Oistrach in Augenblicken der psychischen Vertiefung und Hingabe. Das gesamte Buch war laut Richter als ein „gestischer Bericht über eine Persönlichkeit“ zu verstehen. Nicht nur die Bildfolge, auch sämtliche Details der Buchgestaltung wurden von der Fotografin bestimmt und ließen den Band damit zu einem Gesamtkunstwerk und frühen Beispiel des "Autorenfotobuchs" werden. Die folgende Publikation „Paul Dessau. Aus Gesprächen“ 1974 war ähnlich ambitioniert, doch kam es hier wie auch beim Band zu Oistrach zu heftigen Konflikten, die letztlich darin begründet waren, dass künstlerische Autonomie in der Verlagsproduktion nicht durchsetzbar war. Einige Jahre später, 1980, steuerte Evelyn Richter einen wichtigen Beitrag zu der Publikation des Psychologen Hans Dieter Schmidt „Entwicklungswunder Mensch“ bei. Sie übernahm die Redaktion der Bildausstattung dieses Buches über frühkindliche Entwicklung und unterzog auch mit ihren eigenen Fotografien die staatlichen Erziehungsmaßnahmen für Kinder in der DDR einer kritischen Wertung.

Evelyn Richter kämpfte nicht nur um künstlerische Freiheit als Fotografin. Sie beanspruchte auch Mitmenschlichkeit, Wahrhaftigkeit, offenes Denken in jeglicher Richtung. Damit stieß sie an, provozierte Widerstand der politischen Instanzen in der DDR und setzte sich oftmals dennoch durch. Zur Meisterung des Alltages blieb weniger Energie übrig. Hinzu kam die Unterversorgung nicht nur mit fotografischen Geräten und Materialien, sondern generell Mangel und Verfall im ostdeutschen Staat. Evelyn Richter, der Augenmensch, die Kunstfreundin hatte, so formulierte es Ute Eskildsen in ihrer Laudatio zur Verleihung des Kulturpreises der DGPh 1992 mit freundlicher Untertreibung, "den Auswirkungen lebensgeschichtlicher Konfrontationen und Erfahrungen keine Kompensationsstrategie entgegnet“. Sie benötigte ständig Assistenz und Helfende, um die Malaisen der Praxis, auch gesundheitliche Behinderungen, bewältigen zu können. Nicht wenige ihrer Helfer zog sie in ihren Bann, vermittelte Anregungen, setzte Zeichen für freies Denken und fröhliche Anarchie. Sie, die sich gegen eine eigene Familie entschieden hatte, fand Rückhalt in der Herkunftsfamilie wie auch im Ort ihres Herkommens, in Neukirch in der Oberlausitz und in Dresden.

Evelyn Richter war eine loyale und diskutierfreudige Kollegin, eine treue Freundin ganzer Familien, regelmäßiger Gast bei Ausstellungseröffnungen an verschiedenen Orten und auch fröhlich Feiernde im Kreise Gleichgesinnter. Sie war und sie blieb auch als ältere Frau eine elegante, feine, freundliche Erscheinung, eine wahre Dame. Mit ihr ist nun eine letzte Vertreterin einer Generation von deutschen Künstlern gegangen, die aus der Katastrophe des Krieges, in ihrem Fall konkret auch der Zerstörung Dresdens 1945, wesentliche Antriebe bezog.

Das Werk von Evelyn Richter fand national und international Anerkennung, beginnend 1987 mit einer großen Präsentation auf dem Fotofestival im französischen Arles, der Verleihung des Kulturpreises der DGPh 1992, über die Verleihung des Titels "Professor" an der ehemaligen Stätte ihres Studiums und ihrer Lehre, der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, endend mit der Verleihung des ersten Bernd-und-Hilla-Becher-Preises Düsseldorf 2020 an die inzwischen 90jährige. 2009 erwarb die Stiftung Ostdeutsche Sparkasse einen bedeutenden Bestand des künstlerischen Werkes und übergab diesen dem Museum der bildenden Künste Leipzig zwecks Gründung und Unterhaltung des Evelyn-Richter-Archivs.

Ich lernte Evelyn Richter 1985 persönlich kennen, zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn als wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. 1987 entstand, wegen der noch bestehenden Trennung Ost/ West unter quasi konspirativen Umständen, ein erster Beitrag zum Themenheft "Fotografie in und aus der DDR" in der von Herta Wolf herausgegebenen österreichischen Zeitschrift "der kairos der fotografie" über ihr Werk. Weitere folgten, wie auch über viele Jahre hinweg Begegnungen und intensive Gespräche, in Berlin, Leipzig, Leppersdorf und Dresden.

Salute, Evelyn!

Andreas Krase (DGPh)

(Veränderte und erweiterte Fassung eines Textes in den Dresdner Neuesten Nachrichten am 12. 10. 2021)

 

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