Surfaces. Birgit und Axel Koschies

Das Fotografen Ehepaar Koschies hat das Zitat „Aus einem Augenblick lässt sich kein Gesicht beurteilen, es muss eine Folge da sein.“ von Georg Christoph Lichtenberg in Bilder umgesetzt. Diese Abfolge von Eindrücken haben sie mit einer „Schlitzkamera“ erstellt, die quasi das Gesicht vom linken bis zum rechten Ohr abgescannt hat. Solche Darstellungen des menschlichen Gesichts kennen wir z.B. aus der griechischen Antike, die Agamemnon Totenmaske (Mykene) ist sicher die bekannteste.

Die hier gezeigten Fotografien werden mit einer Schlitzkamera erzeugt, die in der Wissenschaft zur optischen Dokumentation von Zeit- und Bewegungsabläufen eingesetzt wird. Technisch rollt hinter einem extrem schmalen senkrechten Schlitz kontinuierlich ein Film ab - so wird der sich vor der Kamera um 360º drehende menschlich Kopf als scheinbarer Panoramaschwenk abgebildet

Wie der Kunsthistoriker Klaus Honnef in seinem Essay ausführt, ist die Frage, ob es Fotografien sind, die Definition eines Portraits sprengen die Motive sowieso. Bleibt der Aspekt ob weniger mehr ist, denn in dem gemalten oder fotografierten Portrait selbst in der höchstmöglichen Verdichtung der Dreiviertelansicht ist es eine fragmentarische Ansicht.

In der Werkserie der Koschies aber sind es alle vier Seiten eines Kopfes wie sonst nur in der Skulptur/Plastik sichtbar. So ist scheinbar die Zweidimensionalität der Fotografie überwunden, es sind keine Portraits mehr, sondern Kopfpanoramen.

Beim Betrachten spielt die Faszination des Unerwarteten eine Rolle, die noch verstärkt wird, wenn man erkennt, dass es „Lichtbilder“ sind, die den Zeitfaktor integriert haben. Wer mit den Stilen der modernen Kunst vertraut ist, wird an die komplexen Portraits von Pablo Picasso erinnert. Es ist das gleiche Bildkonzept, beide verzichten auf die Zentralperspektive. Die zahlreichen Perspektiven werden von ausdrucksstarken Augen und den profilierten Nasen dominiert. Wie in einer Partitur schwingt dabei die Zeit mit oder mit Markus Gabriel gesagt die „Interpretation der partizipierenden Betrachter.“

Es sind weder klassische Repräsentationsporträts noch psychologische Bildnisse und sie haben auch keinen Bezug zu zeitgenössischen Selfies. Vielmehr gibt es Bezüge zur frühen Kinematografie den Experimenten der fotografischen Pioniere Eadweard Muybridge, Étienne-Jules Marey und Ottomar Anschütz, in der Malerei gibt es ähnliche Ansätze in der griechischen antiken Vasenmalerei und bei Francis Bacon und Fernando Botero. Das Wort „surfaces“ bezeichnet Oberflächen beinhalte aber auch faces (Gesichter), und die Bilder werden von Klaus Honnef nach Gilles Deleuzes Definition als „Bewegungs-Bilder“ definiert. Denn es fehlt Ihnen der „euklidische, mathematische Raum, der dem Flächenbild eine illusionistische Tiefe verschafft.“ Die mathematisch-geometrische Dimension der Fotografie wird im quantenphysikalischen Sinne gedehnt. Die Werkgruppe der Koschies nimmt Bezug auf die aktuelle Wahrnehmung der Realität und nicht auf tradierte fotografische Bildauffassungen.

Es ist eine auf den ersten Blick irritierende Werkserie, deren Aspekte die Grauzone zwischen Film und Fotografie auslotet. Diese simultane Sichtbarmachung eines menschlichen Kopfes bringt den Zeitfaktor wie im Film mit ein, und damit den Betrachter dem Lichtenberg Zitat näher. Aus einem zeitlichen Nacheinander wird ein räumliches Nebeneinander. Im Gegensatz zum klassischen Portrait in dem - wie z.B. bei der Fotografin Evelyn Richter - der Betrachter im Gesicht mit Hintergrundbezug lesen kann steht hier eine anonyme Ansicht im Vordergrund. Oder um Marshall McLuhan aus seinem Werk „Die magischen Kanäle -Understanding Media“ (Düsseldorf / Wien 1968, S. 214) zu zitieren: „Die Logik der Fotografie ist weder in Worte noch Sätze zu fassen, eine Gegebenheit, welche die Kultur der Schrift und des Buches hilflos macht, wenn sie mit der Fotografie zurechtkommen wollen.“ (db)

Surfaces
Birgit und Axel Koschies

Texte von Klaus Honnef, Christoph Tannert, Sigrid Weigel
Deutsch, Englisch
Buchgestaltung Festeinband
160 Seiten, ca 54 Tafeln und 10 Abbildungen in Farbe
Deutscher Kunstverlag, Berlin / München
ISBN: 978-3-422-98947-4
48,00 €