Das Buch mit der Werkserie »Wer bist du? – Unser Leben mit Friedrich« des Photographen Florian Jaenicke geht über eine Kinder Portraitserie weit hinaus. Ich kenne nur ein weiteres Buch, das mich so emotional und photographisch angesprochen hat und das ist »Manuel« von Stefan Moses. In beiden Fällen setzt ein Vater seine Gefühle für seinen Sohn in eindrucksvolle und zeitlose Bilder um. Können wir uns bei „Manuel“ in die Bilder hineinversetzen, weil wir darin unsere eigene Kindheit reflektieren, ist es bei „Friedrich“ die Reflexion wie würde man selbst in dieser Situation denken, welche Gefühle empfinden? Diesen Aspekt haben seit Anfang 2019 die Leser des ZEITmagazins für sich nachvollziehen können indem sie sich jede Woche mit einer Photographie von Friedrich auseinandersetzen konnten. Die kurzen Bildtexte geben nur einen Einblick in den Alltag eines schwerstbehinderten Kindes und seiner Eltern. Es ist für jeden Betrachter ein Moment der „Perspektiven verschiebt - und lehrt, was Glück bedeutet.“ Für Friedrich: die Beatles und Schweinsbraten. Für seine Eltern: die Liebe zu Friedrich. In eindrucksvoller Weise setzt die Photographie sich mit dem Leben behinderter Mitbürger auseinander und ist ein Appell sie in ihrer Lebensweise zu respektieren. So ist davon auszugehen, dass auch Friedrich damit einverstanden ist, dass viele seinen Alltag kennenlernen.
Aber es gibt noch eine ganz andere Perspektive auf diese Photographien und das ist die stilistisch ästhetische der künstlerischen Photographie, die bei Harun Farocki – als operative Bilder bezeichnet wird. Denn die gezeigten Alltagssituationen sind ein `anschaulicher Beweis´ für die folgenden Aussagen. Auch Friedrich hat alle Alltagsbedürfnisse und -Freuden, die Photographien lassen die Eltern aber auch alle Betrachter den schwerbehinderten Jungen besser verstehen. Die dritte Frage, die diese Photoserie aufwirft: Wer bist Du? – gerichtet an den Leser oder die Leserin, die ein Jahr lang mit einem Menschen konfrontiert wurden, wie er ihnen im Alltag nur selten begegnet. Und die, wenn es passiert, nicht wissen, welche Haltung sie einnehmen sollen, und damit die Sichtweise des Betrachters auf die eigene Lebenssituation lenken.
Ein sehr empfehlenswertes Buch als Dokument einer besonderen menschlichen Situation, die über das Individuelle hinaus auch eine gesellschaftliche Aufgabe ist. Das Buch regt dazu an über die aktuelle Frage nachzudenken, welche identitätsstiftende Wirkung kann Photographie in Bezug zu gesellschaftlichen Veränderungen und Meinungen haben? Ein eindrucksvolles und menschlich berührendes Buch, das jeden Leser auch dazu anregen wird über seine persönliche Situation nachzudenken. Und es vermittelt die Erkenntnis, dass glücklich sein da ist wo uns Zuneigung und Unterstützung begegnen und dass dies ein elementarer Teil unseres Lebens ist. (db)
"Wer bist du? – Unser Leben mit Friedrich"
Photographien von Florian Jaenicke
Prolog Florian Jaenicke
Texte von Florian Jaenicke
Deutsch
Buchgestaltung Festeinband
176 Seiten, 52 Abbildungen in Farbe
Aufbau Verlag, Berlin
ISBN 978-3-351-03768-0
24,00 Euro
Wöchentliche Kolumne aus dem ZEITmagazin (Hamburg)
Ausstellung bis 20.09.2020 in der Lounge des Münchner Stadtmuseums (Reihe “Gesichter der Stadt”)