© Miriam Tölke 'Ast', 2022
© Miriam Tölke 'Ast', 2022
Eröffnungsdatum
Photograph*in
Miriam Tölke
Ausstellungsdatum
-
Name der Galerie / Museum / Ausstellungsort
Beschreibung

Was ist das ganz Besondere an der bildnerischen Praxis Photographie? Die Photographie ist ein spätes und immer noch junges Familienmitglied der Künste. Obwohl Kunst, graphische Kunst, haben die Menschen mit ihr von Anfang an ein intimeres, lebenshaltigeres, unbefangeneres Verhältnis gehabt als mit den traditionellen Künsten. Mit der Photographie sind ihre Nutzer von Anfang an weniger respektvoll umgegangen. Tausende von Jahren der Abbildung und Realitätsverwandlung auf Stein und in Stein, auf Pergament und Leinwand und Papier, in Bronze und Wachs und Gips stehen als gewaltiges Monument den gerade einmal 150 Jahre der Photographie voran. Ein Geniestreich der modernen Wissenschaften, der Optik und der Chemie, hat die Camera Obscura zur Bühne eines Menschheitstheaters gemacht. Photographie ist nach ihrer Erfindung 1839 sofort erkannt worden als Revolution, nach der nichts mehr sein würde, wie es gewesen war im Verhältnis des Menschen zu seinem und der Welt Abbild, und hochsymbolisch ist es, daß der französische Staat, damals der modernste der Welt, Louis Daguerres Entdeckung der Menschheit zum Geschenk gemacht hat.



Und als sei die neue Methode nicht Revolution genug, erscheint schon ein paar Jahrzehnte nach der Erfindung der Photographie eine weiteres revolutionäres Element im Umgang mit den neuartigen Bildern: Das Prinzip Collage, eine Errungenschaft der klassischen Moderne, ist sehr früh im Umfeld der Photographie aufgetaucht. Genau betrachtet ist sie eine schöpferische Zerstörung. Die Surrealisten erkannten die ungeheuren Möglichkeiten zu rauschhaften Spielen mit den optischen Erwartungen, die das Spiel mit aus dem Zusammenhang gerissenen Wirklichkeitselementen anbot. Wenn wir die frühen Collagen der 20-iger Jahre anschauen, dann stürzen die Perspektiven, beben die Räume, tanzen die Verhältnisse. Collage ermöglicht das Spiel mit bisher ungeahnten Nachbarschaften, Überlagerungen und Konfrontationen. Und schier unendlich sind die Räume, die da entdeckt werden können, ob polemisch, ironisch oder poetisch. An der Faszination durch die unendlichen Assoziations-, Kombinations- und Konfrontationschancen der Collage, an dem Spiel mit den diversen Materialitäten des Ausgangsmaterials hat sich - glücklicherweise! - seit der Hochblüte der Collage in der klassischen Moderne nichts geändert.



Das Prinzip Collage ist zeitlos. Auch die mehrschichtigen Collagen Miriam Tölkes haben die Traum-Qualität des jungen Surrealismus, sie sind Spielfelder einer kalkulierten Montagetechnik, die jedes Betrachter-Vertrauen in Abbild und Wirklichkeitszitat sofort relativiert durch die nächste Schicht. Gute Bilder zeichnen sich dadurch aus, dass sie, je länger man sie anblickt, immer mehr Sinnschichten offenbaren. Dazu gehört in der Moderne nicht zuletzt das Thema "Kunst über Kunst". In Miriam Tölkes Collagen fände man bei genauerem Hinsehen kinematographische Spuren, das Überblenden etwa, sogar in einer doppelten, ironischen Überblendung, die eine Erfindung René Magrittes zitiert. Man fände den Dialog zwischen der Makellosigkeit der Modephotographie, die das weibliche Antlitz oder den Frauenkörper klassizistisch idealisiert, mit dem objet trouvé - Begeisterung für "raue", abstrakte Strukturen. Man fände auf dem gleichen Bild den abrupten Perspektivenwechsel von der Nahaufnahme, die so wenig Distanz wahrt, dass vom Gesicht nur noch Fragmente erkennbar bleiben, mit dem Blick in den fernen Himmel, wo ein Vogel kreist. Und neben den offenkundigen optischen Reizen fänden wir die Wundertüte der kulturellen Anspielungen. Es wäre reizvoll, der Simultan-Musik Miriam Tölkes mit jenem poetologischen Instrumentarium auf die Spur zu kommen, das die Literaturwissenschaften zur Entschlüsselung der "Poesie pure" entwickelt haben, jener Geschwisterkunst der Collage, geschaffen von den avantgardistischen Lyrikern in der Morgenröte der Moderne des 20. Jahrhunderts.



Aber noch schöner als das analytische Verstehen dessen, was Miriam Tölke eigentlich "macht", ist es, sich dem Zauber der Kunstwerke anzuvertrauen. Ihre Bedeutung entsteht im Kopf der Betrachter als Amalgam von längst eingebrannten Bildern mit den neuen, die uns Miriam Tölke mitbringt. Und weil wir auch sind, was wir gesehen haben, so gilt: Soviel Betrachter, soviel verschiedene Bilder, auch wenn wir alle auf dieselbe Collage blicken.



Christoph Stölzl