L’œil et la glace, 2021 © Marie Sommer
L’œil et la glace, 2021 © Marie Sommer
Photograph*in
Marie Sommer
Datum
-
Name der Galerie / Museum / Ausstellungsort
Beschreibung

"L'œil et la glace", setzt eine Untersuchung der Archivstätten des Kalten Krieges fort, die Marie Sommer 2018 bei der Stasi in Berlin begonnen hat. Diese Installation erforscht die Überreste der DEW-Linie (Distant Early Warning Line), ein Verteidigungssystem, das quer durch den Norden Kanadas errichtet wurde, um mögliche Invasionen der Sowjets in Nordamerika zu erkennen. Diese Langstrecken-Radar- und Kommunikationslinie zieht eine magnetische Grenze quer durch das arktische Territorium von West nach Ost. Von den vielen Stationen, die zwischen 1954 und 1956 gebaut wurden, wurden die meisten später aufgegeben, aber nie abgebaut. Von der Zeit und den Witterungseinflüssen geschädigt, bilden diese Standorte ein wahres Archiv, dessen Historizität tief in einen Konflikt eingeschrieben ist, der sich fernab der Öffentlichkeit abspielte.

Die Installation besteht aus drei Teilen: einem Film, der auf zwei Leinwände projiziert wird, gedruckten Fotografien aus kanadischen und US-amerikanischen Archiven mit den kartografischen Daten aller Standorte und einem Objekttisch mit den architektonischen Elementen der Radaranlagen. Der Titel der Installation verweist auf zwei zentrale geopolitische Herausforderungen des Kalten Krieges: die Fernerkennung (das Auge) und die Eroberung des Nordens (das Eis).

Der Film wurde in der Nähe von Tuktoyaktuk gedreht, einige hundert Kilometer von der Station mit dem Codenamen BAR-3 entfernt, die auf 69° 26′ 35″ nördlicher Breite und 132° 59′ 55″ westlicher Länge liegt. Da Marie Sommer den Ort aufgrund der frühen Eisschmelze nicht erreichen konnte, richtet sie ihre Kamera stattdessen auf diese natürliche Umgebung im Wandel und fängt die Auswirkungen des Klimawandels auf sie ein. Der auf 16mm gedrehte Film ist weder dokumentarisch noch narrativ. Er ist jedoch abstrakt und zeigt die ihm innewohnende analoge Materialität: Der Schnitt wechselt kurze Sequenzen von Landschaften mit Nahaufnahmen, die die einzigartige Textur des Eises offenbaren, und zufälligen Lichteinbrüchen, die die Oberfläche des Films verändern, die manchmal kurz vor der Auflösung zu stehen scheint.

Diese Entmaterialisierung akzentuiert das Schmelzen des Eises und spiegelt den Verfall der in den Archivfotos gezeigten Militärstandorte wider. Die Fotografien stellen zwei Phasen des Konflikts einander gegenüber: die Stätten zur Zeit ihrer Inbetriebnahme, die die Kälte ihrer Technologie offenbaren, und die nun stillgelegten Stätten, deren Überreste die besondere Prekarität ihrer Architektur verraten. Die Radaranlagen der DEW-Linie, die im Ernstfall einer potentiellen Bedrohung und unter extremen Bedingungen konstruiert wurden, waren aufgrund der sehr schnellen Entwicklung der Überwachungstechnologien in dieser kritischen Periode des Kalten Krieges von Anfang an zur Veralterung verurteilt.

Auf mehreren Fotografien stehen die Radaranlagen majestätisch da, und doch hat ihre Monumentalität etwas Gespenstisches, als sei die Zukunft, die sie andeuten, irgendwie in der Vergangenheit eingefroren. Doch diese retrofuturistische Atmosphäre, die der Vergleich der Fotografien erahnen lässt, birgt trotz der dort herrschenden Trostlosigkeit noch eine Idee von Fortschritt. So zeugen diese Archiv-Orte von einer neuen Zeitlichkeit, die der Kalte Krieg einführt und die L'œil et la glace hinterfragt: eine vordigitale Epoche, in der sich der Übergang zwischen einer analogen Überwachungstechnologie, die menschliche Anwesenheit erfordert, und einer vollständig computerisierten, ferngesteuerten, digitalen Technologie abspielt. Das Ziel, den Verfall dieser Architekturen des Kalten Krieges zu zeigen, wie es L'œil et la glace tut, ist nicht, vom Ende eines Konflikts zu sprechen, sondern die geplante Obsoleszenz aufzudecken, deren materielle Relikte sie sind.

Text von Marie Fraser